Sie erinnert sich ganz genau an den Moment auf der Fähre, als aus dem Meer der Gipfel des Vulkans auftauchte. An den Anblick des satten Grüns, das hier und da auf den rauen Hängen lag. An den blau-weißen Plastikstuhl, auf dem sie Platz genommen hatte. Sie saß alleine auf dem Oberdeck. Es war der Abend des 10. September 2022.
Die Frau mit dem muskulösen, sehnigen Körper heißt Ruth Hager. Sie hat sich die blonden Haare streng zurückgebunden. Ihre helle ungeschminkte Haut ist vom Wind des Atlantiks gegerbt. Sie ist 53 Jahre alt und lebt seit nunmehr 16 Jahren auf den Azoren, hatte Deutschland und ihren kleinen Pferdehof in Sachsen-Anhalt im Jahr 2006 zurückgelassen, um hier ihr Glück zu finden.
An jenem Septemberabend 2022 landet die Fähre am Hafen von Pico an. Ruth Hager steigt in ihren weißen Pick-up und hält noch kurz am Supermarkt. Als sie später zu Hause ankommt, bellen die Hunde zur Begrüßung. Das Grundstück ist von scharfkantigem Vulkangestein ummauert. Eine Kamera, befestigt an einem Mast, überwacht den Eingangsbereich. Sie fährt durch das Holztor, den dunklen Schotterweg hinauf, vorbei an dem auf einem Hügel gelegenen Haus mit breiter Glasfront.
Im Garten lodert ein Feuer. Die Flammen züngeln nicht allzu hoch. Ihr Lebensgefährte, Tomislav Jozic, wartet neben der Feuerstelle auf sie. Sie nennt ihn nur Tom. Ein ruhiger, schweigsamer 60-jähriger Mann, der trotz leichten Buckels noch immer robust und kräftig wirkt. Tom war 2019 auf die Insel ausgewandert. Er stammt aus Bosnien, 1989 war er in die Schweiz gekommen, hatte in Hotels gearbeitet und eine Portugiesin kennengelernt. Später war er mit ihr nach Deutschland gezogen, hatte sich scheiden lassen und als Taxifahrer gearbeitet. Immer stärker hatte er das Leben auf dem Land vermisst, wie er es aus seiner Kindheit kannte, und schließlich ein neues Glück auf den Azoren gesucht. Genau wie Ruth.
Der Wind, der von Westen weht, trägt den Rauch in den Himmel. Ruth ist nicht überrascht, dass Tom ein Feuer gemacht hat. Sie verbrennen im Garten regelmäßig altes Holz, Essensreste und Tierkadaver.
Sie begrüßt ihn, lädt das Auto aus und bringt die Einkäufe ins Haus. Er versorgt noch die Tiere, bevor er zu ihr kommt. Sie essen zu Abend, gehen zu Bett. Draußen, in der Dunkelheit, glimmt die Glut. Das Meer schlägt gegen die Klippen. So wird Ruth später von jenem Abend erzählen, doch kaum jemand wird ihr glauben.
Bewohner der Insel werden sagen, die Flammen an jenem Tag hätten viele Meter hoch in den Himmel gezüngelt, der Rauch habe übelkeiterregend gestunken. Kein normaler Rauch sei das gewesen. Sondern Rauch, der nach Tod roch.
Tags darauf hallen Rufe über das Grundstück. Mit einem Mal steht eine fremde Frau vor der Haustür. Ruth fängt die Hunde ein, die kläffend herbeieilen. Die Frau ruft über das Bellen hinweg, sie suche nach zwei Männern, die gestern spurlos verschwunden seien. Der Land Rover einer der Männer sei in der Nähe verlassen aufgefunden worden. Die Namen der beiden habe Ruth noch nie gehört, bei ihr jedenfalls seien sie nicht gewesen. Die fremde Frau fährt davon.
Am Nachmittag säubern Ruth und Tom die Teppiche im Haus, hängen sie draußen zum Trocknen auf. Sie bemerken etwa zehn Personen am hinteren Ende des Grundstücks, dort, wo die Klippe ins Meer abfällt und nur ein schmaler Pfad von zwei Meter Breite zwischen Mauer und Abhang verläuft.
Am Nachmittag stehen plötzlich mehrere Polizisten auf Ruths Grundstück. Die Polizisten zeigen ihr das Foto eines der beiden verschwundenen Männer. Sie wiederholt sich, sagt, sie kenne den Mann nicht, aber wenn die Polizisten wollten, könnten sie sich gern einmal auf dem Grundstück umsehen.
Fast eine Woche vergeht.
Niemand findet eine Leiche
Inspektoren der portugiesischen Kriminalpolizei PJ (Polícia Judiciária) von São Miguel fliegen ein. Mit jedem weiteren Tag sind die Ermittler mehr davon überzeugt, dass die beiden verschwundenen Männer Opfer eines Verbrechens wurden. Wer verschwindet schon spurlos von einer Insel?
Am Morgen des 17. September 2022 ist der Frühstückstisch gerade gedeckt, als Ruth und Tom zwei Polizisten bemerken, die winkend vor dem Eingangstor stehen. Sie bitten das Paar, kurz auf die Wache mitzukommen, um irgendein Dokument zu unterschreiben. Die Beamten sprechen Portugiesisch, Ruth versteht nicht alles, Tom kein Wort. Auf der Wache wird das Paar plötzlich getrennt, ihre Handys werden konfisziert. Es ist das letzte Mal für lange Zeit, dass Ruth Hager ihren Tom sehen wird. Noch am selben Tag durchsuchen die Ermittler das Haus. In einem Tresor finden sie Toms halbautomatische Pistole mit holzverkleidetem Griff – Ruth und Tom sind Mitglieder im örtlichen Schützenverein –, die bald darauf zur mutmaßlichen Tatwaffe erklärt werden wird. Außerdem finden sie ein historisches Bajonett, eine Armbrust, zwei Schalldämpfer, sieben Dolche und eine Machete.
Noch am Abend verfasst der leitende Inspektor eine 18-Punkte-Theorie, die Tomislav Jozic zum Doppelmörder macht und Ruth Hager beschuldigt, beim Beseitigen der beiden Leichen geholfen zu haben. Der Ermittler notiert, es gebe eine "perfekte Symmetrie zwischen allen vorgelegten Beweiselementen".
Da wären zum einen die Blutspuren an der Außenmauer des Grundstücks und auf dem Boden davor, direkt am Abhang zum Meer, teils bedeckt mit Fischresten. Außerdem die Patronenhülse, die man in einem Vorsprung der Mauer entdeckt und Tomislav Jozics Waffe zuordnet. Blutschnelltests mit leuchtend reagierendem Luminol hätten außerdem Blutspuren zum Vorschein gebracht, die jedoch "kaum fotografisch festgehalten wurden", wie der Inspektor selbst vermerkt. Außerdem führt er ein blutiges Kissen als Indiz an, das in der Badewanne des Paars gefunden wurde. Ruth Hager sagt später, dies sei das Kissen ihrer Katze gewesen, die an Zahnfleischbluten leide.
Doch niemand findet eine Leiche. Oder gar zwei.
Für die Untersuchungsrichterin reichen all diese Indizien dennoch aus, um gegen Tomislav Jozic Untersuchungshaft anzuordnen, obwohl zu diesem Zeitpunkt weder die Blutproben, das Kissen noch die gefundenen Waffen von einem Experten untersucht wurden.
Ruth Hager wird nach der Hausdurchsuchung wieder freigelassen. Sie fühlt sich taub, nicht mehr wie sie selbst. Wieder zu Hause, setzt sie sich an ihren Schreibtisch und tippt auf ihrem Laptop. Bis in die Morgenstunden schreibt sie sich die letzten Stunden und Tage von der Seele. Noch immer hat sie nicht richtig begriffen, was überhaupt vor sich geht, wieso sie und Tom für den Tod zweier ihr unbekannter Männer verantwortlich sein sollen. Welches Motiv sollen sie für so eine Tat gehabt haben? Als der Morgen graut, verlässt sie das Haus und versorgt die Tiere. "Irgendjemand musste ja weitermachen", findet sie.
Als sie auf die Azoren auswanderte, war sie nicht allein. Branislav, ihr Mann, war bei ihr, ihre erste große Liebe. Sie waren 2005, während einer Urlaubsreise, zuerst auf São Miguel gelandet. Auf dieser Insel, auf der andauernder Wind ihr Haar zerzauste und die Luft so klar und frisch war, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte.
Ruth und Branislav entschieden sich, für immer hier leben zu wollen. Bald zogen sie auf die Nachbarinsel Faial, später weiter nach Pico. Ruth muss schmunzeln, wenn sie heute daran denkt, wie sie und Branislav mit drei Pferden, drei Katzen, Hühnern und einem Hund den stürmischen Atlantik überquerten. Es war die Zeit der Paradiesfindung gewesen.
Dann kam dieser Tag im November 2018, Branislav wollte für ein paar Tage nach Deutschland reisen. Er fuhr mit der Fähre von Pico zurück nach São Miguel, von wo aus er den Flieger nehmen wollte. Er verbrachte die Nacht in einem billigen Apartment am Flughafen. Am Abend noch telefonierte er mit Ruth. Am nächsten Morgen ging er nicht mehr an sein Handy. Ruth fuhr zur Polizeistation auf Pico. Dort sah man ihr in die Augen und sagte: sem vida, ohne Leben. Branislav hatte ein schwaches Herz gehabt. In jener Nacht hatte es aufgehört zu schlagen. Sein Wunsch war es gewesen, dass seine Asche im Meer versinkt. Doch die Urne steht noch immer zu Hause bei Ruth. Sie konnte es nicht. Und jetzt, vier Jahre später, war der Tod zurückgekehrt.
In den ersten drei Tagen seiner Haft nimmt Tom keine feste Nahrung zu sich. Vor Gericht wird er später sagen, die Inspektoren hätten ihn körperlich und psychisch misshandelt, ihm seine Gastritis-Medikamente verweigert. Der leitende Inspektor hingegen wird behaupten: "In meinen über 20 Jahren Erfahrung bei der Polizei ist noch nie ein Angeklagter so gut behandelt worden wie er." Tomislav Jozic habe aus Protest nicht gegessen.
Immer wieder tauchen Journalisten auf
Fest steht, dass Tomislav Jozic am 20. September 2022 nach drei Tagen des Schweigens, der Schlaflosigkeit und des Essensentzugs ein Geständnis ablegt. Er sagt aus, er habe die beiden Portugiesen hinter seinem Grundstück erschossen, über die Vulkansteinmauer gewuchtet und dann mit einer Schubkarre zur Feuerstelle gebracht. Warum er das getan hat? Er erzählt von mehreren Personen, die ihn seit Längerem verfolgten und versuchten, ihn zu vergiften, "indem sie an seinem Haus vorbeigehen und etwas in die Luft schleudern, das ihn krank macht". Gegen 14 Uhr habe er das Feuer angezündet und die beiden Leichen die ganze Nacht über verbrannt. Die Schubkarre und die Blutspuren will er mit Wasser und Natronlauge gereinigt und eine der beiden Patronenhülsen mitgenommen haben. Später wird das Geständnis für ungültig erklärt, weil es nicht aufgezeichnet wurde. In der Ermittlungsakte findet sich nur eine schriftliche Zusammenfassung.
Doch an jenem 20. September haben die Inspektoren erst einmal ihre Antwort auf den Verbleib der Leichen. Zudem finden sie bei einer weiteren Durchsuchung den Herzschrittmacher von einem der beiden Männer. Auf Fotos in den Akten kann man das kleine, rundliche Gerät samt Seriennummer gut erkennen. Es wirkt nicht verkohlt oder geschmolzen, eher als sei es an einer Seite mit einem Bunsenbrenner flambiert worden. Wer diese Bilder mit solchen von Herzschrittmachern vergleicht, die in Krematorien aus der Asche der Verbrannten geholt werden, kann sich kaum vorstellen, dass jenes metallene Gerät eine ganze Nacht lang in einem Feuer gelegen haben soll. In der Regel hätte durch die Hitze allein schon die Batterie im Inneren des Geräts explodieren müssen. All das wird später ein von Ruth Hager engagierter Gutachter darlegen.
Doch auf Pico macht sich an diesem Tag Erleichterung breit. Der Mörder Tomislav Jozic wurde "im Rekordtempo", wie es in einem Fernsehbeitrag heißt, überführt. Und Ruth Hager muss dabei zusehen, wie ihr die zweite große Liebe abhandenkommt.
Tom war es gewesen, der ihr über die Trauer und das Vermissen von Branislav hinweggeholfen hatte. Er nahm ihr die Einsamkeit, schenkte ihr Zuversicht, Geborgenheit. Kurz nachdem er auf die Azoren ausgewandert war und Ruth kennengelernt hatte, zog er bei ihr ein. Er ging feinfühlig mit ihren Tieren um. Er reparierte das vom Wind beschädigte Dach. Er baute eine Sturmwand für die große Fensterfront. Er legte einen Garten mit Bohnen, Zwiebeln und Karotten an, säte Wiese aus, als Futter für die 25 Hasen. Er restaurierte ihr kleines Boot.
Jetzt sitzt Ruth Hager allein zu Hause und versucht zu begreifen, in welchen Albtraum sie da geraten ist. Immer wieder tauchen Journalisten auf ihrem Grundstück auf, selbst aus Deutschland kommen sie angereist, lassen Drohnen um ihr Grundstück herumfliegen.
Am 23. September 2022 wird sie für ein weiteres Verhör vorgeladen. Die Ermittler bieten ihr an, sie in einem Zivilwagen zu fahren, um sie vor den neugierigen Blicken zu schützen. Im Auto reden die beiden Inspektoren auf Ruth ein, ob sie nicht endlich einfach sagen will, wo Tomislav Jozic die Knochen seiner Opfer vergraben hat. Würde sie dabei helfen, ihren Partner, "diesen Psychopathen", zu überführen, wäre sie doch eine wahre Heldin hier auf Pico! Ruth schweigt. Plötzlich hält der Fahrer das Auto an, keine 50 Meter vom Gerichtsgebäude entfernt. Und überreicht ihr einen handgeschriebenen Zettel, auf dem steht, dass sie hiermit verhaftet sei. Die Ermittler weisen sie darauf hin, dass sie ihr Handy nun nicht mehr benutzen darf. In dem Moment, sagt Ruth Hager heute, habe es klick gemacht: "Ob es das Universum oder Karma oder weiß der Himmel was war, irgendwas hat mich getreten."
Es ist der Moment, in dem sie aufhört zu hoffen, dass dieser Albtraum von allein aufhören wird. Der Moment, in dem sie begreift, dass sie auf sich allein gestellt ist, und der Moment, in dem sie entscheidet zu kämpfen. Heimlich drückt sie die Aufnahmetaste ihres Handys und schreibt ihrer Anwältin eine kurze SMS. Ihre Anwältin ruft an. Der leitende Inspektor nimmt ihr das Handy ab und behauptet gegenüber der Anwältin, sie würden sich jetzt gleich mit ihrer Mandantin auf den Weg zum Gericht machen. In dem Moment ruft Hager, dass sie doch längst vor dem Gericht stünden. Da erst erlauben die Inspektoren ihr, das Auto zu verlassen.
14 Monate später, November 2023. Die Sonne glitzert auf der ruhigen Oberfläche des Atlantiks, den man durch die großen Fenster des einzigen Verhandlungssaals im Gericht von São Roque do Pico schimmern sieht. In der Ecke eine portugiesische Flagge, die Wände sind mit blau-weißen Fliesen ausgekleidet. Zahlreiche Journalisten und Inselbewohner drängen hinein, um der Verurteilung eines Doppelmörders beizuwohnen. Dass Tomislav Jozic, der seit über einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt, das Gefängnis nicht mehr als freier Mann verlassen wird, daran scheint niemand Zweifel zu hegen. Dem 61 Jährigen droht die portugiesische Höchststrafe von 25 Jahren Haft.
In Handschellen wird der große, hagere Mann in den Saal geführt. Ruth hat da bereits auf der Anklagebank Platz genommen. Sie schenkt ihm ein müdes, aufmunterndes Lächeln. Sie wirkt an diesem Morgen beinahe erleichtert darüber, dass sie nun endlich ihre Version der Geschehnisse erzählen kann. Dass sie all die Unzulänglichkeiten und Fehler in den Hunderten Seiten Ermittlungsakte, die sie in den letzten Monaten bis ins kleinste Detail studiert hat, aufzeigen kann.
Verlesung der Anklage: Am Nachmittag des 10. September 2022 soll Tomislav Jozic an der Mauer seines Grundstücks auf zwei Männer geschossen haben, weil er sich "über deren Anwesenheit geärgert" habe. Bei den beiden Männern handelt sich um den 74-jährigen Mario Coucelos und den 65 Jahre alten Mario Sobral.
Mario Coucelos war Grundstückshändler, der bis vor 20 Jahren in Frankreich gelebt und gearbeitet hatte. Auf Pico, dessen Immobilien seit einigen Jahren immer wertvoller werden, wittertete er nun ein neues Geschäft. An jenem Tag wollte Coucelos ein Grundstück mit seinem Freund Mario Sobral besichtigen, einem pensionierten Ingenieur der portugiesischen Luftwaffe. Dieser war vor einigen Jahren nach Pico gezogen, um dort seinen Ruhestand zu genießen und ein Tourismusunternehmen aufzubauen. Dabei hatten sich die beiden kennengelernt und angefreundet.
Neue Spuren werfen Fragen auf
Am Tag ihres Verschwindens sollen die beiden gemeinsam das unbewohnte Nachbargrundstück von Ruth Hager besichtigt haben, an dem sie wohl Interesse hatten. Coucelos hatte zuvor, gegen 14 Uhr, in einem Fischerhafen, etwa vier Kilometer von Ruths Haus entfernt, noch den Besitzer des verwilderten Grundstücks getroffen. Er erklärte dem Mann, dass er ihm das Grundstück abkaufen wolle. Der Mann wird später aussagen, dass er bei dem Treffen auf dem Beifahrersitz von Coucelos Land Rover eine zweite Person gesehen haben will – wen, das habe er nicht erkennen können, vielleicht war es Mario Sobral, vielleicht auch nicht. Der Besitzer jedenfalls habe kein sonderliches Interesse daran gehabt, sein Grundstück zu verkaufen, und Coucelos darum einen horrenden Preis genannt. Coucelos habe dennoch nicht abgeschreckt gewirkt, sich verabschiedet und sei in seinem Land Rover davongefahren. Es ist das letzte Mal, dass er gesehen wird.
Tags drauf, um 14.16 Uhr, geht ein Post auf Facebook online. Der Sohn von Mario Coucelos schreibt darin: "DRINGEND!! UNGEWISSER AUFENTHALTSORT!" Dazu postet er ein Foto des grauen Land Rover und ein Foto seines Vaters im bunten Hemd mit einem Strohhut. Dann meldet er ihn bei der Polizei als vermisst. Durch die zahlreichen Nachrichten, die sich in kürzester Zeit unter seinem Facebook-Beitrag sammeln, findet er kurz darauf den grauen Geländewagen auf einem Parkstreifen in der Nähe von Ruth Hagers Grundstück. Immer mehr Menschen pilgern zu dem verlassenen Fahrzeug, darunter auch der Chef der örtlichen Polizei. Dieser steigt in den Land Rover und durchsucht den Wagen ohne Handschuhe. Er findet den Autoschlüssel in der Zündung und eine ausgedruckte Google-Maps-Karte des umliegenden Küstengebiets. Gemeinsam mit einigen Schaulustigen begibt er sich in der Umgebung auf Spurensuche.
An der Mauer von Ruth Hagers Grundstück entdecken die Männer dunkelrote Flecken. Blut. Sie stoßen auch auf eine leere Patronenhülse, die bis zum Prozessende nicht auf Fingerabdrücke hin untersucht werden wird.
Die vor Ort gefundenen Spuren werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern. An jener Mauer, an der zwei Männer ihren Tod gefunden haben sollen, wird lediglich an einer Stelle das Blut von Mario Coucelos gefunden. Mario Sobral lässt sich kein einziger Tropfen am angeblichen Tatort zuordnen.
Zwei Tage nach dem Verschwinden der beiden Männer meldet sich ein weiterer Zeuge bei der Polizei, um auszusagen, dass er vor einigen Monaten beim Vorbeigehen am Grundstück der Deutschen eine Gestalt hinter dem Tor gesehen habe, die regungslos und ohne ein Wort zu sagen eine Waffe auf ihn gerichtet habe.
Nach der Anklageverlesung erteilt die Vorsitzende Richterin den beiden Angeklagten das Wort. Beide beteuern, mit dem Verschwinden der Männer nichts zu tun zu haben. Ein Raunen geht durch den Gerichtssaal.
"Es gibt nur eine Wahrheit", wird die Vorsitzende, eine kleine, energische Frau, die sich immer wieder hektisch den dunklen Pony aus dem Gesicht streicht, in den 17 Verhandlungstagen nicht müde zu sagen. "Und um die aufzudecken, sind wir hier."
In den vergangenen Monaten hat sich Ruth Hager immer wieder durch Akten, Fotos, Internetseiten und Laborberichte gewühlt, hat abgeglichen, nachgelesen, überprüft. In einer langen Liste hat sie zusammengefasst, wie Spurenproben verschwanden, vertauscht wurden und neu auftauchten. Wie aus einer Blutprobe eine Haarprobe wurde. Sie hat den deutschen kriminologischen Gutachter Marius Richter, einen ehemaligen LKA-Mitarbeiter, engagiert. Er studierte die Akte, reiste nach Pico, um sich selbst ein Bild zu machen, und kam schlussendlich zu folgendem Ergebnis: "Die wesentliche Spurenlage am Tatort, die zur Belastung des Paars Hager/Jozic geführt hat, hält einer tieferen Untersuchung nicht stand. Die hauptbelastenden Beweismittel stellen sich vielmehr als klare Trugspuren dar, die mitunter recht dilettantisch gelegt wurden." Wie etwa der kaum verkohlte Herzschrittmacher.
Wer die Akte liest, die ZEIT Verbrechen vorliegt, ist erstaunt, wie eine so unsaubere Ermittlung überhaupt als Grundlage für eine Anklageerhebung dienen kann. Der Polizei schien es wichtiger zu sein, möglichst schnell einen Täter zu präsentieren und damit den Frieden auf Pico wiederherzustellen, als die Wahrheit herauszufinden.
In den darauffolgenden Verhandlungstagen versuchen Ruth Hager und ihre Anwältin immer wieder auf all diese Unstimmigkeiten, Widersprüche und Lücken in der Beweisführung hinzuweisen. Doch die Vorsitzende fährt der Strafverteidigerin ständig über den Mund.
"In diesem Prozess kann vieles sein, was nicht sein darf"
An Tag vier der Verhandlung kommt die Kammer mit der überraschenden Nachricht aus der Mittagspause, jetzt sofort zum Grundstück der Angeklagten aufbrechen zu wollen. Hektik bricht aus. Journalisten packen ihre Kameras zusammen, ein Taxi wird gerufen, Tomislav Jozic in den Gefangenentransporter verfrachtet. Am eiligsten aber hat es Ruth Hager. Sie wittert ihre Chance, diesen aus ihrer Sicht gewaltigen Irrtum nun endlich aufklären zu können. Gemeinsam mit ihrer Anwältin braust sie der Verfahrenskolonne davon.
Auf ihrem Grundstück, zwischen dem Gegacker der Hühner und dem Bellen der Hunde, wirkt Ruth Hager wie ausgewechselt. Die angestrengte Körperhaltung aus dem Gerichtssaal ist geschmeidigen, routinierten Bewegungen gewichen.
Als der Polizeitransporter ankommt, klebt Tomislav Jozic wie ein kleiner Junge an der Scheibe des Busses, durch die man die Tränen in seinen Augen glitzern sieht. Zur Begrüßung hebt Ruth Hager ihre gemeinsame Hündin hoch. Zuletzt hatte Tomislav Jozic sie als kleinen Welpen gesehen. Es beginnt zu regnen. Die Richterin herrscht den Gerichtsdiener an, Fotos zu machen: von der Mauer, über die Tomislav Jozic zwei ausgewachsene Männerkörper gewuchtet haben soll. Von der Feuerstelle mit etwa eineinhalb Meter Durchmesser, auf der die zwei Körper zu Asche verbrannt worden sein sollen.
Am Ende der ersten Verhandlungswoche darf Ruth Hager wenigstens einmal ihren Tom im Hinterzimmer in die Arme schließen. Dann wird die Verhandlung für mehrere Wochen unterbrochen. In der Zwischenzeit tauscht die Kammer den verschlafenen Verhandlungssaal auf Pico gegen den Justizpalast auf der Azorenhauptinsel Terceira aus. Sowohl die Verteidigung als auch die Nebenklage hat gegen den Ortswechsel Beschwerde eingelegt: Schließlich kommen fast alle Zeugen, die Angeklagten und die mutmaßlichen Opfer aus Pico. Doch das Gericht wollte sich offenbar selbst die Anreise ersparen.
So kommt es, dass von nun an ein Zeuge nach dem anderen vor eine Webcam gerufen wird. Immer wieder bricht die Übertragung ab, es gibt Rückkopplungen, Antworten gehen in dem krachenden Hall der Lautsprecher verloren. So erscheint etwa der Zeuge auf dem Bildschirm, der glaubt, einige Wochen vor dem Verschwinden der beiden Männer eine Gestalt mit einer auf ihn gerichteten Waffe gesehen zu haben. In Handschellen wird Tomislav Jozic vor die Webcam geschoben. "Ist das der Mann, der die Waffe auf Sie gerichtet hat?", fragt die Richterin. "Er sieht ihm sehr ähnlich", antwortet der Zeuge. "Na also!", sagt die Richterin.
Schließlich betritt der leitende Inspektor den Gerichtssaal. Ruth Hagers Anwältin will von dem Mann wissen, wie es sein kann, dass ein erfahrener Kriminalermittler wie er Proben von jener Feuerstelle, auf der zwei Leichen verbrannt sein sollen, nie an ein Labor geschickt hat, und wohin die Knochenreste verschwunden seien, die als Beweise für die Leichenvernichtung aufgeführt wurden? Der Inspektor, der mit zurückgegelten Haaren und gefalteten Händen dasitzt, antwortet: "Asche ist Asche." Man könne an den Bodenproben nicht erkennen, ob hier ein Mensch, ein Kaninchen oder ein Stück Holz verbrannt worden sei. Die Knochen seien schon bei Berührung zu Staub verfallen, und die DNS sei damit zerstört.
Ruth Hagers Anwältin will das nicht gelten lassen, doch die Richterin eilt dem Inspektor zur Hilfe: "Nun lassen Sie den Zeugen in Ruhe, er hat jetzt schon mehrmals erklärt, dass die Proben nicht ..." – sie stockt kurz und streckt mit erwartungsvollem Blick dem Inspektor die Hand entgegen – "... nicht relevant waren", beendet dieser ihren Satz. Ruth Hagers Anwältin bleibt nur Sarkasmus: "Danke für Ihre Antwort, Frau Richterin."
Am Abend des achten Verhandlungstages sitzen Ruth und ihre Anwältin allein in einem Restaurant in der Nähe ihres Hotels. Die Stimmung ist aufgekratzt. Die Frauen lachen über die kitschige Weihnachtsdekoration aus grell leuchtenden Glocken, die Mitte Januar noch immer die verlassenen Straßen der Insel schmücken. Und sie lachen über die Verhandlung, weil ja sonst alles nur zum Heulen ist. Ruth Hager bestellt Meeresfrüchteeintopf und Wein. Sie spürt, dass der Prozess verloren ist, dass für ihre Wahrheit in diesem Gericht kein Platz ist. Irgendwann zuckt die Anwältin mit den Schultern: "In diesem Prozess kann vieles sein, was nicht sein darf."
Am 14. März 2024 wird Tomislav Jozic zur Höchststrafe von 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Ruth Hager erhält ebenfalls eine Gefängnisstrafe, weil sie die beiden Leichname mitentsorgt habe. Zudem soll sie danach für sieben Jahre des Landes verwiesen werden.
Wie schon am ersten Tag der Verhandlung scheint Ruth Hager beinahe erleichtert. Sie gibt die Hoffnung nicht auf. Irgendwann, so glaubt sie, wird die Wahrheit ihren Weg auf die Azoren finden. Sie und Tom legen umgehend recurso gegen das Urteil ein, was vergleichbar mit einem Berufungsverfahren in Deutschland ist. Bis dahin bleibt sie auf freiem Fuß, allein in ihrem Garten auf Pico, gemeinsam mit all ihren Tieren. Und dem Blick auf jene Klippen, an denen zwei Männer ermordet worden sein sollen.
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